Der realistische Dialog
Was macht einen Dialog realistisch? Wer schon mal ein Interview transkribiert hat weiß, dass es praktisch unmöglich ist, echte gesprochene Sprache in eine vernünftige Textform zu bringen. Dabei wäre es doch naheliegend, die Figuren so sprechen zu lassen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Die gesprochene Sprache in einem Text ist jedoch immer eine idealisierte Sprache. Das muss sie auch sein, denn mit all den ähs ... , hmmms ...., ineinandergeschachtelte Haupt- und Nebensätze, die in alltäglicher Sprache vorkommen, wäre ein solcher Text eine Tortur. Das gilt nicht nur für Dialoge in gedruckter Form. Auch in Film und Theater scheinen die Figuren immer genau zu wissen, was sie sagen wollen und sie tun dies mit einer (faszinierend aber unrealistisch) gleichbleibenden Präzision. Damit die Sprache der Figuren realistisch wirkt, muss man beim Schreiben regelmäßig den Schalter im Kopf zwischen der (eigenen) Erzählstimme und den gesprochenen Worten der einzelnen Figuren umlegen. Hier hilft die eigene Imaginationsfähigkeit. Um die Figuren in inneren Bildern lebendig werden zu lassen, sollte man ihnen ein Aussehen, eine Vergangenheit und einen Charakter mitgeben. Beim Schreiben von Dialogen sollte sich nun die Vorarbeit, wie weiter oben unter plot-building schon dargestellt, bezahlt machen.
Setzen Sie sich in ihr Kopfkino und beschreiben Sie, was ihre Helden und Schurken so anstellen und was sie dabei sagen. Von nun an gilt es dem Dialog mehrere Dimensionen zu geben.
Was soll das heißen? Mehrere Dimensionen? Sehen wir uns zunächst einen eindimensionalen Dialog an.
„Guten Tag.“
„Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“
„Wann kommt der Zug aus Hamburg an?
„Meinen Sie den ICE?“
„Ja.“
„Um zehn Uhr dreißig auf Gleis 5.“
„Dankeschön. Auf wiedersehen.“
Dieser Dialog findet ausschließlich auf der Sachebene statt. Auf eine Frage folgt die folgerichtige Antwort. Wir können praktisch keinerlei Rückschlüsse auf die handelnden Personen ziehen. Da wartet jemand auf einen Zug und der andere, vielleicht ein Bahnangestellter, gibt Auskunft. Das war’s.
Vielleicht haben Sie den Ausdruck „Sachebene“ schon einmal gehört. Seit der Kommunikationsforscher Friedemann Schulz von Thun das Kommunikationsquadrat beschrieben hat, wird dies immer wieder zur Veranschaulichung menschlicher Kommunikation herangezogen. Aus diesem Kommunikationsmodell geht hervor, dass Menschen nicht nur auf der Sachebene kommunizieren. Im Kommunikationsquadrat finden wir drei weitere Ebenen.
1. Sachebene: Die wertfreie, rational fassbare Information.
2. Selbstoffenbarung: Bei jeder Äußerung liefern wir einen Teil von uns mit. Dies beinhaltet unsere Wertvorstellungen, Gefühlslage, Marotten und so weiter. Wenn wir etwas von uns geben, liefern wir unser Ego automatisch mit. „Ich will ...!“
3. Beziehungsebene: Auf dieser Ebene signalisieren wir, wie wir zu unserem Zuhörer stehen, was wir von ihm halten oder glauben erwarten zu können. Das schließt auch Befürchtungen und Vorurteile mit ein.
4. Appell: Was wir von dem anderen wollen. Die Appell-Ebene ist zuweilen sehr tückisch. Nicht immer drücken wir offen aus, was wir von dem anderen erwarten. Oft ist der Appell unbewusster Natur.
Wenn Sie sich die Ebenen anschauen, dann werden Sie feststellen, dass sie, je nach Situation, vom Sender der Botschaft unterschiedlich gewichtet werden. Dasselbe gilt übrigens auch für den Zuhörer. Der hört die Botschaft auch auf diesen vier Ebenen. Im Kommunikationsmodell heißt es oft, der Sender spricht mit vier Schnäbeln und der Empfänger hört mit vier Ohren.
Ein weiterer Meister des Dialoges, Loriot, hat dies in dem Cartoon: „Das Ei ist hart.“, sehr trefflich dargestellt.
Der Gatte sagt zunächst: „Das Ei ist hart. Wie lange hat das Ei denn gekocht?“
Seine Gattin jedoch hört nicht nur die objektive Feststellung, sondern auch die Selbstoffenbarung des Gatten: „Ich will das so nicht ...!“, die Beziehungsebene: „Du hast es verkehrt gemacht.“, und die Appell-Ebene: „Mach es in Zukunft besser.“
Das führt zur folgerichtigen Reaktion der Gattin: „Zu viele Eier sind gar nicht gesund.“
Spätestens hier wird es für den kreativen Schreiber interessant. Wir erkennen zunächst die Sachebene. Okay! Zu viele Eier sind nicht gesund! Das stimmt. Die Gattin antwortet aber auf eine nicht gestellte Frage. Sie umgeht ihren Gatten. Wir wissen sofort, dass sie etwas gänzlich anderes damit bezweckt. Wir können unserem Leser nun anbieten, selbst über die tatsächliche Botschaft zu spekulieren, indem wir die Situation näher beschreiben. Zum Beispiel könnte die Gattin den Mund versziehen und, während eines tiefen Atemzuges, zur Decke blicken. Der Leser kann sich ausmalen, dass die Gattin eher auf der Ebene der Selbstoffenbarung sagen will: „Bitte nicht schon wieder diese Diskussion.“ Auf der Apell-Ebene klingt es wie: „Nörgel nicht rum, Du nervst.“ Und so weiter.
Ich möchte das Rezept für einen solchen Dialog so beschreiben. Man nehme die Grundregeln von show don’t tell und lasse die Akteure indirekt antworten, sodass der Leser spürt, dass hier auch viel Ungesagtes im Raum steht. So bringt man jede Situation zum knistern. Weiter verschärfen kann man einen solchen Dialog, wenn man den Leser an den Gedanken eines oder mehrerer Akteure teilhaben lässt. Dies hängt davon ab, welche Erzählperspektive man nutzt. Kennt man die Gedanken des Helden, kann der darüber spekulieren, was der andere wohl tatsächlich meint oder denkt. Verwendet man die umfassende Gott-Perspektive und beschreibt auch die Gedanken der anderen Akteure, kann man die Entwicklung von Konflikten, Liebeserklärungen, Missverständnissen und vieles mehr, in allen Facetten beschreiben.
Der Dialog erhält mehrere Dimensionen.
1. Je nachdem, wie direkt oder indirekt zwei Personen kommunizieren, erkennt man, wie vertraut sie sind. Zwei Fremde benötigen viel mehr direkte Kommunikation. Personen, wie oben in unserem Beispiel das Ehepaar, verstehen sich viel eher auf non-verbaler Ebene. Sie kommunizieren indirekter, nehmen ggf. die Reaktionen des anderen vorweg.
2. Bewegung. Die Botschaften auf den nicht sachbezogenen Ebenen werden oft unbewusst übermittelt. Wir erkennen dies an der Körpersprache der Akteure. Wenn wir diese Körpersprache in Form von Bewegungen darstellen, erhalten wir eine szenische Darstellung der Akteure. Bewegungen gehen direkt ins Kopfkino des Lesers.
3. Zeit und Intonation. Peinliche Pausen in einer Konversation, hastige, atemlose Beschreibungen, eine zittrige Stimme. Diese Attribute zeigen uns Emotionen und geben dem Gesagten zusätzliche Tiefe.
4. Gedanken. Man kann niemandem hinter die Stirn schauen? Im kreativen Schreiben schon. Was ein Akteur denkt, welche Schlussfolgerungen er zieht, welche Motive er verfolgt. All das gibt unseren Akteuren Charakter. Dabei muss der Gedanke nicht unbedingt wörtlich dargestellt werden. Es reicht, wenn man ihn erahnt.
5. Umgebung. Der Ort, die Verhältnisse, Gerüche, Temperatur. Welche Kleidung tragen die Akteure und so weiter. Diese Details runden den Dialog ab.