Der erste Satz.
Aller Anfang ist schwer – oder?
Der erste Satz, der erste Absatz, die erste Seite. Wer schon ein gutes Konzept erarbeitet hat, der macht sich vielleicht gar keine Gedanken darüber und legt einfach los. Für andere ist es ein magischer Moment. Vielleicht der Moment, an dem man etwas gänzlich Neues beginnt. Für manche ist es gar der Beginn eines neuen Lebensabschnittes. Wie auch immer, der Anfang eines Buches, oder einer Geschichte, ist eines der wichtigsten Teile in einem literarischen Werk. Um was geht es dabei?
Zunächst einmal geht es ganz schlicht und profan ums Verkaufen. Wenn man sich Leser in einer Buchhandlung ansieht, dann erkennt man ein recht typisches Muster. Viele greifen nach Büchern, mit einem interessanten Titel. Der berühmte Eye-Catcher. Dann folgt ein kurzer Blick auf den Klappentext auf der Rückseite und dann wird die erste Seite angelesen. Bedenken Sie, die Menschen heutzutage haben immer weniger Zeit. Das fängt schon bei der Kaufentscheidung an. Wenn das Buch nicht gleich auf der ersten Seite Lust auf mehr macht, wandert es sofort wieder ins Regal. Für viele reicht der erste Absatz, um sich für oder gegen die Geschichte zu entscheiden. Erst wenn dieser erste Test bestanden wurde, blättern potentielle Käufer etwas weiter, meist in die Mitte des Buches, um dort noch etwas zu schmökern. Manche, das hängt von der Mentalität des Lesers ab, lesen sogar den Schluss, bevor der endgültige Kaufentscheid gefällt wird.
Sie haben also nur wenige Momente Zeit, ihren Leser einzufangen und in die Geschichte hineinzuziehen.
Dieser Verkaufsdruck führt dazu, dass kaum noch echte Einleitungen geschrieben werden. Um es mit dem Vokabular der Heldenreise zu beschreiben: Die Geschichte sollte just zu dem Zeitpunkt einsetzen, wenn die Alltagswelt gerade den Höhepunkt an Langweiligkeit erreicht hat und der Ruf des Abenteuers, wie ein Schneesturm durch die aufschlagende Tür gedonnert kommt.
Das erste Ziel ist es, Neugier zu erzeugen.
So weit so gut, wenn es nur darum ginge, könnte man sich leicht darauf einstellen. Der Anfang muss aber nicht nur den Leser überzeugen, sondern ggf. auch den Verleger, den Lektor oder wer auch immer ein Buch in einem Verlag vorschlägt. Die Leute wollen natürlich auch neugierig gemacht werden, jedoch achten sie auf den ersten zwei, drei Seiten auf etwas ganz anderes. Anfang des 21ten Jahrhunderts ist „Show – don‘t tell“ die allumfassende Zauberformel. Wer die Kunst des „Zeigens“ nicht beherrscht, fällt schon gleich am Anfang durch. Dies steht jedoch im Gegensatz zu unserem Ansinnen, den Leser möglichst schnell in die Story zu bringen. Denn „Show – don‘t tell“ geht sehr ins Detail und brauch Platz. Eine mögliche Abhilfe besteht darin, mit viel Dialog zu beginnen und über die Aussagen der Figuren möglichst viele Sinneseindrücke zu vermitteln, die die Story vor dem inneren Auge des Lesers plastisch erscheinen lässt.
Die Formel lässt sich auch ganz allgemein ausdrücken.
Ein Dialog erzeugt immer Action. Je kurzer und schneller die Wortwechsel, desto mehr.
„Show – don’t tell“, detaillierte, bildhafte Beschreibungen entspannen die Story. In Teilen einer Geschichte, wo gerade viel Aktion vorherrscht und schnell viel Information vermittelt werden muss, ist diese Erzählweise eher ungünstig. Am Anfang einer Geschichte besteht also die große Herausforderung, eine gesunde Mischung aus Aktion und „Show – don‘t tell“ zu finden.
Es gibt aber noch einen dritten Aspekt, der nicht vergessen werden darf und der nicht minder wichtig ist. Der österreichische Dramaturg Christian Mikunda nannte dies einmal die „cognitive map“.
Wenn Sie nicht gerade unheimlich Kompetent wirken müssen, können Sie auch einfach „geistige Landkarte“ sagen. Ist dasselbe!
Diese geistige Landkarte am Anfang einer Geschichte ist auch eine jener Geheimwaffen der modernen Dramaturgie. Das beste Beispiel für die Funktionsweise dieser geistigen Landkarte sind die James Bond-Filme. Wenn sie mal genau hinsehen, dann stellen Sie fest, dass man fast den ganzen James Bond-Film schon in der Anfangssequenz gezeigt bekommt. Den Fans dieser Streifen geht es nicht darum, ob James den Bösewicht tatsächlich besiegt und ob er am Ende in den Armen der Schönen landet. Die Sache ist längst ausgemacht. Es geht nur noch um das „Wie“.
Bei der cognitive map geht es darum, dem Leser schon am Anfang einen recht guten Ausblick darauf zu geben, was ihn erwartet. Spannt man ihn zu lang auf die Folter, wird er das Buch weglegen. Entwickelt sich die Story plötzlich in eine ganz andere Richtung, ist er (in den meisten Fällen) enttäuscht.
Das Wissen um diese geistige Landkarte hat in der letzten Zeit ein ungewöhnliches Konstrukt hervor gebracht. Manche Geschichten fangen mit dem Schluss an. Oder sagen wir mal kurz davor. Das Ganze ist wie ein Cliffhanger aufgezogen und dann folgt ein Szenenwechsel mit dem Untertitel: „drei Tage zuvor ... „
Die Autoren, die diese Lösung wählen, setzen dabei auf den Kontrast zwischen Showdown und langweilige Alltagswelt des Helden. Die Neugier entsteht, weil der Leser sich zwangsläufig fragt: „Hä, wie kommt es denn dazu?“ Die Neugier ist geweckt.
weiter geht es mit Zeigen, nicht erzählen